Laurel Hubbard: Das Gewicht der Welt (2024)

Keinem Auftritt wurde in Tokio so entgegengefiebert wie dem von Laurel Hubbard, der ersten olympischen trans Athletin. Das war selbst für eine starke Frau zu viel.

Von Christof Siemes, Tokio

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Es ist der Wettkampf, dem in Tokio die bisher größte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zum ersten und bislang einzigen Mal bekamen nicht alle Journalistinnen und Journalisten, die dabei sein wollten, Zugang gewährt, auch der Autor dieses Textes nicht. Also verfolge ich an einem der Bildschirme im Pressezentrum, wie "the most controversial competitor in Olympic history" (Daily Mail Australia) um 20.30 Uhr Ortszeit erstmals die Bühne des Tokyo Forum betritt, wo der Wettkampf der Gewichtheberinnen in der Klasse über 87 Kilogramm stattfindet.

Lange und tief hat Laurel Hubbard durchgeatmet, ehe sie sich dem Gewicht von 120 Kilogramm nähert, das, verteilt auf vier rote Eisenscheiben zu je 25 Kilo und montiert auf der 20 Kilo schweren Hantel, auf der Bühne liegt. Und keine 15 Minuten später ist der Wettkampf für die 146,7 Kilogramm schwere Frau (so steht es in der offiziellen Startliste, size matters in diesem Sport) bereits beendet. DNF steht nun hinter ihrem Namen auf der Anzeigetafel, "did not finish". Keiner ihrer drei Versuche im Reißen (Hantel in einem Zug nach oben wuchten) war gültig, zum Stoßen (Hantel mit Unterbrechung auf der Brust nach oben wuchten) war sie damit gar nicht mehr zugelassen. Ist das nun gut oder schlecht für ihre Sache? Und was ist das überhaupt, ihre Sache?

Als Laurel Hubbard am 9. Februar 1978 in Auckland, Neuseeland, zur Welt kommt, wird ihr Geschlecht als männlich bestimmt, und sie erhält den Namen Gavin. Doch früh merkt sie, dass das nicht zusammenpasst, ihr männlicher Name und der Mensch, der sie ist. Sie beginnt mit dem Gewichtheben, um männlicher zu werden. "Traurigerweise war das nicht der Fall", sagt sie viel später in einem Interview über diese Zeit. Aber sie hat Talent für den Sport; mit 20 Jahren stellt sie einen neuseeländischen Juniorenrekord in der Gewichtsklasse über 105 Kilogramm auf – 300 Kilogramm bringt sie reißend und stoßend zur Hochstrecke. Bis sie 23 Jahre alt ist, betreibt sie den Sport, dann beendet sie diesen Versuch, noch der Mann zu werden, der sie nicht ist. 2012 unterzieht sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation, aus Gavin ist endgültig Laurel geworden.

Der Verband wollte sie ausschließen

Doch Gewichtheben ist immer noch ihr Sport; nach zwölf Jahren Pause nimmt sie ihn wieder auf. Diesmal aber als Frau. Nun ist sie, die als Gavin nur nationale Wettkämpfe bestritt, international konkurrenzfähig. "Die Welt hat sich verändert", sagt sie damals der australischen Daily Mail, "und ich glaube, ich kann mit allem klarkommen – dem Druck einer Welt, die nicht wirklich gemacht war für Leute wie mich". Nachdem sie nachweisen konnte, dass ihr Testosteronspiegel zwölf Monate unter einem festgelegten Grenzwert lag, gewinnt sie bei der Weltmeisterschaft 2017 Silber.

Zuvor hatte der australische Gewichtheberverband vergeblich versucht, Laurel Hubbard vom Wettkampf ausschließen zu lassen. Dessen Chef vermutete trotz des Testosterongrenzwerts unlauteren Wettbewerb: "Wenn du mal ein Mann warst und du hast bestimmte Gewichte gestemmt, und plötzlich wirst du zur Frau, weiß deine Psyche einfach, dass du solche Gewichte heben kannst."

"Ich bin, wer ich bin"

Über solche und andere Anfeindungen sagt Hubbard, die von Menschen, die sie gut kennen, als extrem schüchtern bezeichnet wird, damals: "Man müsste ein Roboter sein, um davon nicht berührt zu werden. Aber ich kann nicht kontrollieren, was andere Leute denken, was sie fühlen, woran sie glauben, und ich werde es auch nicht versuchen. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen zu sagen, was sie denken, fühlen, glauben sollen. Alles, was ich tun kann, ist, Gewichte zu heben, so gut ich kann, und dann alles geschehen zu lassen, was geschieht."

Nach dem Sieg bei der Ozeanienmeisterschaft 2019 in Apia, der Hauptstadt von Samoa, ist Laurel Hubbard für die Olympischen Spiele von Tokio qualifiziert – als erste trans Athletin überhaupt. Und mit 43 Jahren wäre sie auch die älteste Teilnehmerin, die je im Gewichtheben eine Medaille gewänne.

Drei Tage vor dem Wettkampf veranstaltet das IOC in Tokio eigens eine Diskussionsrunde über trans Personen und Sport. Laurel Hubbard nimmt nicht daran teil, längst hat ihr Fall globale Dimensionen erreicht. Sie, die noch 2017 dem neuseeländischen Fernsehen sagte, "ich bin, wer ich bin, und ich bin nicht hier, um die Welt zu ändern", wird zu einer zentralen Figur im weltweiten Diskurs der Identitätspolitik. In Tokio schirmt das Olympische Komitee ihres Heimatlandes sie vor der Öffentlichkeit ab. Dessen Pressesprecherin sagt: "Rollenvorbilder machen einen Unterschied, sei es bei der Frage nach weiblichen Führungskräften oder, wie in diesem Fall, bei Transgender-Athleten. Wenn man jemanden auf der Weltbühne sieht, der ist wie man selbst und damit Erfolg hat, ist das eine wunderbare Gelegenheit, für sich selbst einen Weg zu entdecken."

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