„Auf und ab“ – eine Graphic Novel zu psychischen Krisen (2024)

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Pandemie, Klimawandel, Krieg – Kinder und Jugendliche leiden besonders unter den Krisen und Herausforderungen unserer Zeit. Die Folge ist, dass immer mehr unter psychischen Problemen leiden, etwa Angststörungen oder Depressionen entwickeln. Damit umzugehen ist oft schwierig. Die Graphic Novel „Auf und ab“ von Johanna Selge kann helfen, ins Gespräch zu kommen oder auch allein besser die Hintergründe zu verstehen und Hilfe zu finden. Wir haben mit der Autorin über das von Max Hillerzeder wunderbar illustrierte Buch gesprochen.

„Auf und ab“ – eine Graphic Novel zu psychischen Krisen (1)

Ihr Buch ist ein Buch über psychische Krisen von Jugendlichen – in Form einer Graphic Novel. Wie kam es zu dieser Idee, warum haben Sie diese Form gewählt?

Als Schulpsychologin habe ich insbesondere in der Corona-Zeit feststellen müssen, dass die psychische Belastung unter den Jugendlichen stark zugenommen hat. Leider haben viele Schüler*innen durch medial verzerrte Darstellungen ein falsches Bild von psychischen Erkrankungen und dadurch Hemmungen, Themen wie Depressionen anzusprechen. Gleichzeitig besteht bei ihnen aber eigentlich ein großes Interesse an der Thematik, wie sich beispielsweise durch die Petition von Jugendlichen für eine bessere Aufklärung über Depressionen und Angststörungen im Jahr 2019 gezeigt hat. Darauf aufbauend haben damals - initiiert durch die Schulberatungsstellen - viele Lehrer*innen entsprechendes Wissen vermittelt bekommen. Allerdings ist dieses Wissen oft nicht bei den Schüler*innen angekommen, unter anderem, da das Fach Psychologie in vielen Bundesländern gar nicht oder nur punktuell im Lehrplan verankert ist. Ziel war es also, diese Lücke im schulischen Kontext ein Stück weit zu schließen und andererseits außerschulisch für die Jugendlichen und ihre Familien ein seriöses Wissensangebot zu schaffen.

Als Kunstlehrerin bin ich davon überzeugt, dass Bilder schwer in Worte zu fassende Themen anschaulicher und eindringlicher transportieren können, als das in reiner Textform möglich ist. Aus diesem Grund erschien mir das Medium Comic als besonders geeignet, um unterbewusste bzw. innere Vorgänge darzustellen, eine bessere Identifikation mit Betroffenen zu ermöglichen und gleichzeitig einen einladenden Zugang zu dieser „düsteren“ Thematik zu schaffen.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Max Hillerzeder als Illustrator? Kannten Sie sich vorher bereits?

Nein, wir haben uns vorher noch nicht gekannt – er hat quasi unser Auswahlverfahren für sich entschieden. Das muss ich wahrscheinlich kurz erklären: Um eine*n Illustrator*in zu finden, der*die die Jugendlichen mit seiner Bildsprache abholt, war es mir wichtig, dass die Zielgruppe am Auswahlprozess beteiligt ist. Nach Fertigstellung des Drehbuchs habe ich den Illustrations-Job zunächst an mehreren Kunsthochschulen in Deutschland ausgeschrieben. Die Bewerber*innen hatten die Aufgabe, eine Probeseite zu „Auf und ab“ zu entwerfen. Unter den vier besten Probeseiten hat dann ein Schüler*innengremium die finale Auswahl getroffen. Die Zusammenarbeit mit Herrn Hillerzeder hat dann auch von Anbeginn super funktioniert und wir haben uns in unseren Perspektiven und Vorerfahrungen richtig gut ergänzt.

Mit wem haben wir es in dieser Geschichte zu tun und an wen wendet sich das Buch?

In „Auf und ab“ erlebt der*die Leser*in die Geschichte des 16-jährigen Noah, der von verschiedenen unglücklichen Ereignissen zusehends aus der Bahn geworfen wird. Sein Kumpel Leo ist überzeugt, dass der Spitzname „Softie“ besonders lustig ist, sein Schwarm Mira will nach der „Sache am Baggersee“ bestimmt kein Wort mehr mit ihm reden und die Erwachsenen stressen ihn - jeder auf seine Art. Viele Ereignisse also, die für sich allein gesehen vielleicht gar nicht so schlimm wären – in der Gesamtheit aber in seiner momentaner Lebensphase zu einer gefährlichen Abwärtsspirale führen. Noah zieht sich in der Folge zunehmend zurück und droht vollends den Halt zu verlieren. Einige Darstellungen ermöglichen auch einen Einblick in Noahs Innenleben. Dabei wird aber nicht alles düster gezeichnet, sondern es bleibt viel Raum für Humor und auflockernde Erzählmomente, beispielsweise durch den skurrilen Familienkater. Wie es dann mit Noah weitergeht, will ich jetzt noch nicht im Detail verraten – das kann schließlich jeder selbst nachlesen.

„Auf und ab“ – eine Graphic Novel zu psychischen Krisen (2)

Zur Frage nach den Adressaten: „Auf und ab“ sieht sich als präventives Angebot, das die allgemeine Gesundheitskompetenz und Resilienz stärken will. Daher richtet es sich nicht explizit nur an Betroffene, sondern an alle Jugendlichen. Gleichzeitig erhalten auch Familie und Freunde Antworten auf Fragen, die sich im Umgang mit Belasteten stellen. Für Therapeut*innen und andere Helfende kann das Buch Ergänzung zur oder Bezugspunkt in der eigenen Arbeit sein.

Protagonist Noah ist 16 und in einer schwierigen Phase – nicht ungewöhnlich in diesem Alter. Woran können Angehörige oder Freunde erkennen, dass es sich um eine echte psychische Krise handelt und professionelle Hilfe angebracht wäre?

Tatsächlich müssen hier die typischen Schwierigkeiten und Stimmungsschwankungen, die in der Adoleszenz auftreten, von echten psychischen Krisen unterschieden werden. Das ist gar nicht so leicht, denn häufig ist das in der Realität ein fließender Übergang. Einige Anzeichen, auf die Angehörige oder Freunde aber achten können, sind anhaltende und tiefe Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit, sozialer Rückzug und Isolation von Freunden und Familie sowie Verlust des Interesses an früheren Hobbys oder Aktivitäten. Wenn diese Anzeichen auftreten und über einen längeren Zeitraum anhalten oder sich verschlimmern, sollte man professionelle Hilfe in Betracht ziehen. In "Auf und ab" zeigen wir im zweiten Teil des Buches auch, wie Freunde und Angehörige unterstützend sein können, indem sie beispielsweise einfühlsam zuhören und Verständnis zeigen – unter Berücksichtigung ihrer eigenen Grenzen. Außerdem haben wir viele Hilfsangebote aufgelistet, an die man sich wenden kann.

Im zweiten Teil des Buches geht es darum, sich über das Thema psychische Gesundheit zu informieren, wie eng sind beide Teile verknüpft, d.h., funktioniert ein Teil ohne den anderen?

Die beiden Teile des Buches, die Geschichte von Noah und der „Erklärteil“, sind bereits in der Erzählung selbst miteinander verwoben und bauen aufeinander auf. Die als Comic verfasste Geschichte im ersten Teil enthält viele Begriffe aus dem Bereich der Psychologie, die als solche extra farbig hervorgehoben sind. Das signalisiert den Leser*innen, dass man diese später im zweiten Teil des Buches wiederfinden kann, wenn man weiterführende Informationen erhalten möchte. Dieser zweite Teil ist als Glossar konzipiert, in dem Wissen zu den Themen Gesundheitskompetenz und psychische Erkrankungen sowie erste Strategien zur Selbsthilfe in gut verständlicher Sprache von Psycholog*innen des Deutschen Zentrums für Präventionsforschung und Psychische Gesundheit erklärt werden.

Jugendlichen, die diese häufig abstrakten Erklärungen zum ersten Mal hören, kann es trotzdem schwerfallen, sich etwas darunter vorzustellen. Dadurch, dass die Begriffe auch in der Geschichte vorkommen, kann jedoch am Beispiel aus der Handlung besser verstehen werden, welche Bedeutung sie im Alltag haben.

Frau Selge, Sie sind selbst Schulpsychologin – könnte das Buch z.B. auch im Unterricht angewandt werden?

Ja, absolut. Das Buch kann als Bildungsressource im Unterricht verwendet werden, zum Beispiel in Fächern wie Sozialkunde, Deutsch, Religion oder Ethik, aber auch fächerübergreifend an Projekttagen. Szenen aus der Handlung könnten als Diskussionsgrundlage verwendet oder ggf. mit verteilten Rollen nachgespielt werden. Bei der Erschließung psychologischer Themenfelder können die Erklärtexte aus dem zweiten Teil helfen, z.B. als Vorbereitungsmaterial für zu Hause. Zudem arbeiten wir gerade an der Entwicklung von ergänzendem Begleitmaterial (z.B. Arbeitsblätter oder Entwürfe für Unterrichtsstunden), das interessierten Lehrkräften auf der Hogrefe-Website kostenlos zur Verfügung gestellt werden soll.

Einige Tipps, die im Buch vorkommen, scheinen mir auch für Erwachsene gut zu funktionieren. Haben Sie selbst bestimmte Strategien, um sich gegen schwierige Situationen zu wappnen?

Die meisten der Strategien und Ratschläge zur Bewältigung psychischer Herausforderungen sind keineswegs auf Jugendliche beschränkt und können genauso für Erwachsene funktionieren. Entsprechend greife ich selbst ebenfalls darauf zurück, indem ich bspw. mit körperlicher Bewegung, im Schrebergarten oder beim Zusammensein mit unseren zwei Katzen Alltagsstress abbaue. Als helfende Person ist es wichtig, nicht nur auf die Gesundheit von anderen, sondern auch auf sich selbst zu schauen. Das kann auch bedeuten, sich einzugestehen, wenn man Hilfe braucht und sich jemand anderem anzuvertrauen. Ein offenes Gespräch mit nahestehenden Personen kann nicht nur sehr entlastend sein, sondern zudem verbindend. Einige weitere Strategien stellen wir zukünftig auch auf unserem Instagram-Kanal (@aufundabcomic) vor, wo wir darüber hinaus auf Lesungen oder andere Events hinweisen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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Johanna Selge

Johanna Selge begann 2009 ihr Studium in Kunstpädagogik und Schulpsychologie in München an der Akademie der bildenden Künste und der LMU. Nach verschiedenen Praktika (u.a. in einer Schneiderei, einer Werbeagentur, einer Psychiatrie sowie als Schulbegleiterin für Autisten in Tucson, Arizona) und einem dreisemestrigen Gaststudium in der Animationsfilmklasse der Kunsthochschule Kassel schloss sie 2015 mit dem Staatsexamen ab. 2016 absolvierte sie ihren Master in "Kunst und ihre Vermittlung" begleitet durch ein Stipendium mit einem Austauschsemester an der Kunsthochschule Luzern. Nach dem Referendariat begann sie 2018 den Schuldienst in Würzburg und Karlstadt, wo sie als Kunstlehrerin und Schulpsychologin tätig ist. Verschiedene Ausstellungsbeiträge (u.A. Radierverein München, Photokina Köln, Caricatura Kassel, Kunstverein Eisenturm Mainz) dokumentieren ihren künstlerischen Schaffensweg. Einen Einblick in ihre Tätigkeit bekommt man auch auf ihrer Websitewww.kleinerkauz.de.

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Name: Fredrick Kertzmann

Birthday: 2000-04-29

Address: Apt. 203 613 Huels Gateway, Ralphtown, LA 40204

Phone: +2135150832870

Job: Regional Design Producer

Hobby: Nordic skating, Lacemaking, Mountain biking, Rowing, Gardening, Water sports, role-playing games

Introduction: My name is Fredrick Kertzmann, I am a gleaming, encouraging, inexpensive, thankful, tender, quaint, precious person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.